Wird das kommende Schuljahr wieder ein normales werden?
Interview von Tobias Peter mit Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger
08.08.2022 Pressemeldung Redaktionsnetzwerk Deutschland
Frau Stark-Watzinger, wird das kommende Schuljahr endlich wieder ein normales?
Die Kinder haben in der Corona-Pandemie eine riesige Last getragen. Sie haben psychisch gelitten, haben teils keinen Sport machen können und durften ihre Freunde nicht treffen. Das nächste Schuljahr muss ein normales werden, zumindest so normal, wie es nur möglich ist. Es darf im Herbst und Winter keine flächendeckenden Schulschließungen mehr geben.
Ganz schließen Sie es aber nicht aus, dass Schulen im Einzelfall noch mal geschlossen werden?
Ganz klar: Schulen dürfen nur im Einzelfall vorübergehend geschlossen werden. Das darf nur passieren, wenn es gar keine andere Lösung mehr gibt. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn es durch eine rasante Infektionsentwicklung in einer Schule praktisch keine Lehrkräfte für den Unterricht mehr gäbe. Solche Szenarien gilt es aber mit aller Kraft zu vermeiden. Daran arbeiten wir, und ich freue mich sehr, dass sich auch der Gesundheitsminister dieser Position angeschlossen hat.
Lehrergewerkschaften beklagen, die Politik spreche zwar immer darüber, dass Schulen nicht wieder geschlossen werden dürften, sie täte aber nichts dafür. Fühlen Sie sich ertappt?
Nein. Der Bund ist bereit zu helfen, wo es geht. Das gilt für Programme für den Erwerb von Luftfiltern genauso wie für den Digitalpakt, mit dem wir den Ländern Milliarden für die notwendige Digitalisierung der Schulen bereitstellen. Aber es sind am Ende die Länder, die das nächste Schuljahr so vorbereiten müssen, dass es möglichst reibungslos verlaufen kann. Das ist ihre Aufgabe. Mit Beginn des Schuljahres sollten allen Schülerinnen und Schülern im Land noch einmal niedrigschwellig Impfangebote gemacht werden. Die Empfehlung der Ständigen Impfkommission für gesunde Kinder von fünf bis elf Jahren ist eindeutig. Deshalb sollten die Impfmobile auf den Pausenhöfen im Dauereinsatz sein – natürlich immer für diejenigen, die eine Impfung oder Beratung auch wünschen.
Unsere Bildung muss in jedem Fall digitaler werden, nicht nur wegen Corona. Das Geld dafür ist da, es muss nur abgerufen werden.
Der Digitalpakt ist wichtig, verhindert aber in diesem Herbst und Winter keine Schulschließungen.
Je weiter die Schulen in der Digitalisierung sind, desto leichter wird es ihnen fallen, auch Schülerinnen und Schülern, die wegen einer Infektion von zu Hause lernen müssen, die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen – oder aber sie zumindest so gut wie möglich mit Lernmaterialien zu versorgen. Davon ganz abgesehen muss unsere Bildung in jedem Fall digitaler werden, nicht nur wegen Corona. Das Geld dafür ist da, es muss nur abgerufen werden.
Verstehen Sie Eltern, die nicht glauben können, dass es auch im nächsten Schuljahr wieder keine Luftfilter in den Klassenräumen ihrer Kinder gibt?
Natürlich, auch wenn der Nutzen von mobilen Filtergeräten wissenschaftlich nicht eindeutig belegt ist. Trotzdem ist es sinnvoll, hier zu investieren. Filter können ja nicht nur jetzt gegen Corona helfen, sondern auch, wenn es um Grippewellen geht. Dort, wo ein Einbau etwa aus baulichen Gründen nicht geht, gibt es immerhin noch die Möglichkeit von CO₂-Ampeln, die anzeigen, wann gelüftet werden sollte. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten.
Sollte es den Ländern möglich sein, in Schulen flächendeckend eine Maskenpflicht zu verhängen, wenn sich so Präsenzunterricht besser sicherstellen lässt?
Eine generelle Maskenpflicht in Schulen darf es nicht mehr geben. Die Maskenpflicht erschwert das Lernen, den Spracherwerb und das Miteinander. Sechs Stunden Maske tragen belastet. Daher sollte nur auf das Tragen von Masken gesetzt werden, wenn es punktuell in einzelnen Schulen vorübergehend notwendig ist, um den Präsenzunterricht sicherzustellen. Aber es bleibt dabei, die Normalität der Kinder und Jugendlichen darf erst zuletzt eingeschränkt werden.
In der Pandemie muss auch im Winter in den Klassenzimmern sehr viel gelüftet werden. Gleichzeitig ist wegen des russischen Kriegs in der Ukraine das Gas zum Heizen knapp. Haben Schulen unbedingte Priorität?
Als Bildungsministerin sage ich klipp und klar: Schulen müssen als Teil der kritischen Infrastruktur gelten und auch, wenn Energie knapp wird, an erster Stelle mit Gas versorgt werden. Wir sind es der jungen Generation schuldig, ihr alle Chancen auf eine gute Entwicklung zu bieten, im Leben wie in der beruflichen Karriere. Der Unterricht muss stattfinden, und es darf nicht sein, dass die Schülerinnen und Schüler dabei frieren müssen. Dafür werde ich am Kabinettstisch kämpfen.
Stichwort Energiepolitik: Was sagen Sie als Forschungsministerin zur Debatte über eine etwas längere Laufzeit für Atomkraftwerke? Ist ihr Weiterbetrieb überhaupt ohne Risiko, obwohl doch – mit Blick auf die baldige Abschaltung – Sicherheitsprüfungen ausgesetzt worden sind?
Die Sicherheit geht vor und wird auf jeden Fall gewährleistet, es gibt dazu ja inzwischen auch schon entsprechende Bewertungen des TÜV. Diesen vertraue ich. Ich bin auf Grundlage der ersten Experteneinschätzungen überzeugt, dass uns ein zeitweiser Weiterbetrieb von Kernkraftwerken nicht vor unlösbare Aufgaben stellt. Ich bin sicher, dass wir die Kernenergie wegen der Energieknappheit durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine etwas länger brauchen als geplant.
Rechtfertigt das, was wir an Strom durch einen längeren Betrieb gewinnen würden, tatsächlich den Aufwand und die Kosten?
Die verbliebenen Atomkraftwerke sind enorm wichtig für die Stromerzeugung. Wir müssen alles tun, damit wir Gas nicht mehr verstromen müssen. Das ist auch eine Frage der europäischen Solidarität. Unsere Nachbarn fragen zu Recht, warum sie für uns Gas sparen sollen, wenn wir in dieser schwierigen Lage Atomkraftwerke abschalten. Auch das ist ein Grund, warum wir die Atomkraftwerke vorübergehend länger laufen lassen sollten.
Was bedeutet „vorübergehend“? Wie lange sollen die verbliebenen drei Kernkraftwerke noch laufen?
Ein um wenige Monate längerer Betrieb der Atomkraftwerke wird nicht ausreichen. Die Probleme, die wir bei der Energieversorgung haben, sind nicht nach einem Winter vorbei. Wir müssen bei den drei Atomkraftwerken unideologisch über einen Weiterbetrieb bis ins Jahr 2024 reden. Das ist dringend notwendig. Als Forschungsministerin tue ich gleichzeitig alles dafür, dass wir bei den Energietechnologien der Zukunft so schnell wie möglich weiterkommen.
Was bedeutet das konkret?
Deutschland muss zur Wasserstoffrepublik werden. Denn wir wollen unsere Industrie in Zukunft klimaneutral und verlässlich mit Energie versorgen. Und wir wollen sicherstellen, dass Deutschland vom globalen Wasserstoffaufbruch profitiert. Dabei wollen wir der Wirtschaft ein starker Partner sein. Uns darf nicht noch einmal das Gleiche passieren wie mit den Solarzellen: Wir waren Weltmeister in der Entwicklung, aber heute kommt ein Großteil der in Deutschland verbauten Module aus China. Das muss beim Wasserstoff anders laufen!
Für die Grünen wäre ein Weiterlaufen der Atomkraftwerke ein extrem schwieriger Schritt. Wäre die FDP im Gegenzug zumindest bereit, sich auf ein befristetes Tempolimit einzulassen?
In einer so essenziellen Frage wie der Sicherheit unserer Energieversorgung geht es nicht um einen Kuhhandel. Natürlich können wir die Fragen stellen, wie viel ein Tempolimit bringen würde. Aber in einer freiheitlichen Gesellschaft halte ich es für besser, wenn jeder für sich entscheidet, wo er Energie sparen möchte. Und dafür haben wir auch ein Instrument: den Preis! Wenn Energie insgesamt teurer wird, ohne dabei zur sozialen Belastung zu werden, fährt dann der eine vielleicht langsamer oder weniger Auto. Der andere wird vielleicht auf seinen Wäschetrockner verzichten oder anders Energie einsparen.
Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine, die Bedrohung durch den Klimawandel: Fürchten Sie manchmal auch, dass der jungen Generation jedes Sicherheitsgefühl verloren geht?
Die jungen Menschen wachsen in einer Zeit der Dauerkrise auf. Bei Corona haben wir ihnen viel abverlangt – und sie waren sehr solidarisch. Jetzt kommt auch noch der Krieg in Europa dazu. Mich beeindruckt, wie viele junge Menschen trotzdem positiv bleiben und sich engagieren, zum Beispiel in der Klimafrage. Die Schulen müssen ein Ort sein, an dem die Kinder und Jugendlichen mit ihren Sorgen aufgefangen werden. Auch deshalb müssen sie offen bleiben.